„Spätestens seit Ende der Sechziger ist der Begriff der Emanzipation die Monstranz in der Prozession aller rechtgläubigen Pädagogen und Soziologen. In schulischen Richtlinien findet er sich bei der Formulierung von Erziehungszielen unangefochten auf den oberen Rängen. Daß er mit der Heilsbringermentalität eines pädagogischen Gesalbten unvereinbar ist, wird dabei regelmäßig übersehen. Von höherer Weisheit getrieben und ausgestattet mit den Werkzeugen ausgeklügelter Didaktik und Methodik, sind wir Lehrer nämlich eher geneigt, zu konditionieren als loszulassen, zu bearbeiten als arbeiten zu lassen, zu belehren als lernen zu lassen. Dazu zwei Beispiele.“ Das ist der Anfang eines Aufsatzes unter der Überschrift „Die Dressur stolzer Horden. Laßt doch den Flegeln ihren Lauf! Zwischenruf eines genervten Schulleiters“, der 1997 in der ZEIT erschienen ist. An diesem Absatz kann man vielleicht zeigen, was die Rede vom Sinnabschnitt ausdrücken soll.
Zuerst habe ich nach Jahren – ich kenne den Text seit langem und habe ihn öfter in Kl. 10/11 zum Erörtern freigegeben – den Text folgendermaßen ‚gegliedert’: „Spätestens seit Ende der Sechziger ist der Begriff der Emanzipation die Monstranz in der Prozession aller rechtgläubigen Pädagogen und Soziologen. In schulischen Richtlinien findet er sich bei der Formulierung von Erziehungszielen unangefochten auf den oberen Rängen. Daß er mit der Heilsbringermentalität eines pädagogischen Gesalbten unvereinbar ist, wird dabei regelmäßig übersehen. / Von höherer Weisheit getrieben und ausgestattet mit den Werkzeugen ausgeklügelter Didaktik und Methodik, sind wir Lehrer nämlich eher geneigt, zu konditionieren als loszulassen, zu bearbeiten als arbeiten zu lassen, zu belehren als lernen zu lassen. / Dazu zwei Beispiele.“
Den Schlusssatz abzutrennen halte ich für unproblematisch; denn er leitet zum folgendem Text über („Erste Szene...“).Die ersten drei Sätze habe ich dann unter dem Aspekt „religiöse Metaphern zur Abwertung pädagogischer Ziele“ zusammengefasst. Das scheitert jedoch daran, dass dann unklar ist, wer der pädagogische Gesalbte sein soll. Zweitens scheitert diese Einteilung am Adverb „nämlich“ im vorletzten Satz; denn dieser Satz hat bei meinem ersten Verständnis keine begründende Funktion: Wieso machen die Lehrer denn etwas falsch (belehren statt lernen lassen usw.)?
Die Lösung der Rätsel ergibt sich bei folgender Einteilung: „Spätestens seit Ende der Sechziger ist der Begriff der Emanzipation die Monstranz in der Prozession aller rechtgläubigen Pädagogen und Soziologen. In schulischen Richtlinien findet er sich bei der Formulierung von Erziehungszielen unangefochten auf den oberen Rängen. / Daß er mit der Heilsbringermentalität eines pädagogischen Gesalbten unvereinbar ist, wird dabei regelmäßig übersehen. Von höherer Weisheit getrieben und ausgestattet mit den Werkzeugen ausgeklügelter Didaktik und Methodik, sind wir Lehrer nämlich eher geneigt, zu konditionieren als loszulassen, zu bearbeiten als arbeiten zu lassen, zu belehren als lernen zu lassen. / Dazu zwei Beispiele.“ Dann zeichnet die „Heilsbringermentalität eines pädagogischen Gesalbten“ den normalen („guten“) Lehrer aus, der eben das Wesentliche falsch macht; dessen Mentalität ist jedoch mit der von den „fortschrittlichen“ Lehrern propagierten „Emanzipation“ der Schüler nicht vereinbar. – Diese Gliederung war wegen des Wechsels vom Singular (des pädagogischen Gesalbten) zum Plural „wir Lehrer“ nicht leicht zu erkennen; sie ist jedoch die einzig mögliche, die einen Gedankengang ergibt – den Widerspruch zwischen der allüberall gelobten Emanzipation und dem Selbstbewusstsein der pädagogisch (belehrend) agierenden Lehrer.
So, und jetzt kommt die Preisfrage: Soll man sagen, dieser Absatz bestehe aus drei Sinnabschnitten? Ich meine, man sagte besser, er bestehe aus drei Gedankenschritten oder zwei Gedanken und einer überleitenden Floskel: „Dazu zwei Beispiele“ möchte ich als isolierte Floskel keinen Sinnabschnitt nennen; anderseits gehört sie nicht mehr zum vorhergehenden Gedanken.
Wenn man zusammenfasst, was sich zum Thema Sinnabschnitt bisher ergeben hat, könnte man sagen: Ein Sinnabschnitt ist ein Erzählschritt (in Erzähltexten) oder ein Gedankenschritt (in argumentierenden Texten).
Offen ist jedoch, ob man die Größe Sinnabschnitt oberhalb (wie bei den Erzählungen) oder unterhalb der Ebene der Absätze (wie hier bei Mahlmanns Aufsatz) ansetzen soll; erst wenn das geklärt = entschieden wäre, könnte man versuchen, den Begriff Sinnabschnitt weiter zu präzisieren.
Diese Analyse ist Teil eines großen Aufsatzes: Was sind Sinnabschnitte eines Textes? (https://norberto68.wordpress.com/2012/04/09/was-sind-sinnabschnitte-eines-textes/)