Otto F. Bollnow (Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung, 1962, S. 24 ff.) untersucht „Die Krise“: In der leiblichen und seelischen Entwicklung eines Menschen gebe es unstetige Vorgänge, die als wirkliche Brüche sich ruckartig vollziehen, etwa die Pubertät, aber auch andere Formen. Man habe sie lange nur als Störung betrachtet, aber man könne auch fragen, „ob die Krise etwas ist, was wesensmäßig zum menschlichen Leben gehört und in diesem Sinn auch in die Erziehung mit einbezogen werden muß“.
Bei der Krise handele es sich „stets um eine Störung des normalen Lebensablaufs“, die plötzlich auftrete und ungewöhnlich intensiv verlaufe so, „daß der Fortbestand des Lebens in ihr überhaupt gefährdet erscheint und sich im Durchgang durch die Krise schließlich ein neuer Gleichgewichtszustand einstellt“. Die Krise bedeute also eine Entscheidung (Wahl zwischen zwei Möglichkeiten), bedeute aber auch eine Reinigung.
Für die Krise in der Krankheit– hier beruft er sich auf Plügge – gelte:
- Der Anfall tritt blitzartig auf, begleitet von einem Vernichtungsgefühl;
- dabei/danach erlebe der Patient eine Wandlung oder Befreiung;
- der Betroffene vermag nicht zu sagen, wie lange sie gedauert hat.
Plügge habe die Krise so gedeutet:
- Der stetige Lebensverlauf wird unterbrochen;
- dadurch werden zwei Zustände der Lebensordnung voneinander getrennt;
- die Unterbrechung sei durch den Einbruch eines ganz Andersartigen charakterisiert, sozusagen durch eine dritte Ordnung.
Für die sittliche Krise gelte, dass man sich durch eigene Willensanspannung zum befreienden Entschluss aufraffen muss. Dieser Entschluss werde „erst durch den Widerstand der Lage, durch die Unmöglichkeit, in der bisherigen Weise weiterzukommen, und die daraus entspringende Verzweiflung“ herbeigeführt. Die Entscheidung bedeute einen wirklichen Bruch im Lebensverlauf; nur im Durchgang durch die Krise könne der Mensch zu einem neuen Leben gelangen. Das sei wie eine Wiedergeburt, wie bereits Kant in seiner Anthropologiewusste.
Weil die Krise oft mit Verzweiflung und Todesangst verbunden sei, könne man Verbindungen zur Existenzphilosophie erkennen [das ist heute obsolet, N.T.]. Jedenfalls sei festzuhalten, „daß eine letzte Reife und Entschiedenheit grundsätzlich nur im Durchgang durch die Krise erreichbar ist“. Bollnow vermutet, dass die Krise zum Wesen des menschlichen Lebens gehört. Für den Erzieher gelte jedoch, dass er die Krise nicht willkürlich heraufbeschwören soll. „Jede Krise bleibt Schicksal.“
Diese Arbeit Bollnows klingt teilweise – in der Nähe zur Existenzphilosophie – etwas pathetisch. Nüchterner sind seine Ausführungen in „Philosophie der Erkenntnis“, 2. Aufl. 1981, Kapitel „Die Meinung“ (S. 83 ff.); dort führt er aus, wie man nur durch eine Krise vom allgemeinen Gerede weg zu einer eigenen Meinung kommen kann. Ich kannte zuerst diese spätere Arbeit; ihr verdanke ich die Einsicht, dass Krisen etwas Normales sind und man nicht wünschen muss, das eigene Leben solle glatt verlaufen, ohne dass es durch Hindernisse gestört würde.Vgl. auch